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Die Glockengießer von Whitechapel​

 Die Glockengießer von Whitechapel
Der Verkehr war gestoppt und eine jubelnde Menge säumte die Straßen entlang der Themse, als der hölzerne Pferdekarren über die London Bridge rollte. Sechzehn festlich geschmückte Pferde zogen ihre fast 14 Tonnen Gewicht behäbig aber stetig vorwärts in Richtung der Westminster Bridge. Vierundzwanzig Jahre zuvor, im Jahre 1834, war fast der gesamte Regierungsbezirk Londons zusammen mit dem mittelalterlichen Palast von Westminster einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen. Nun war der Palace of Westminster seit 1840 wieder komplett neu aufgebaut worden. An jenem Tag im Mai 1858 sollte London nun eines seiner heute berühmtesten Wahrzeichen erhalten.
 
Die Glocke
Im Zuge der Neuplanungen für den Londoner Regierungssitz entschied das Parlament, dass die neuen Gebäude der “Houses of Parliament” einen Turm mit einer Uhr bekommen sollten. Die Anforderungen an diese Uhr wurden von dem königlichen Astronomen George Airy aufgezeichnet, galten jedoch bis zu diesem Zeitpunkt als technisch vollkommen unerfüllbar: „Der erste Schlag der Glocke sollte jede Stunde die Uhrzeit ankündigen. Ihre Abweichung sollte sich nur innerhalb einer Sekunde Toleranz pro Tag bewegen dürfen.
 
Die meisten Uhrmacher dieser Zeit hielten eine derartige Genauigkeit für Turmuhren dieser Größe für unerreichbar, waren die Glocken und das Schlagwerk doch Wind und Wetter aller Jahreszeiten ausgesetzt. Die eisigen Winde im Turm zur Winterzeit und die Hitze des Sommers machten die Materialveränderungen so groß, dass allein die mechanischen Toleranzen im Uhrwerk schon riesige Hindernisse darstellten. Bis dahin schlug die schwerste Glocke mit ihren fast 11 Tonnen in der Kathedrale zu York mit einer weit geringeren Genauigkeit.
 
Erst im Jahre 1851 wurde ein Uhrwerkskonstrukteur gefunden, der diese Aufgabe in Angriff nehmen wollte. Edmund Beckett Denison verwendete keine der damals üblichen Standard-Glocken für seine Planung. In nahezu allen Aspekten widersprachen seine Ideen und seine Konstruktion jeder damals gängigen Praxis des Glockengießens. Dennoch wurde sie gegossen und ging vor dem Aufhängen im Turm in den Probebetrieb. Die etwas mehr als 16 Tonnen schwere Glocke zersprang nach knapp zwei Wochen irreparabel. Dies war der Zeitpunkt, als Denison Kontakt mit der Glockengießerei in Whitechapel aufnahm.
 
 
Handwerkskunst und neue Ideen
Der damalige Gussmeister und Besitzer der Glockenfabrik George Mears führte den neuen Guss der abgeänderten Glockenkonstruktion durch. Denison hatte die langjährige Erfahrung von Mears in dessen Handwerk zu Rate gezogen, um ein zweites Fehlschlagen des Auftrages zu vermeiden. Die Zusammensetzung des Gussmaterials und die Form der Glocke wurden etwas abgeändert um den extremen Beanspruchungen besser Stand halten zu können. Schließlich benötigte man drei Schmelzöfen um die zerbrochene Glocke innerhalb einer Woche zu zerkleinern. Ihr Material wurde wieder verwendet. Die neue Gussform wurde drei Tage lang aufgeheizt um ein zu schnelles Abkühlen des äußeren Gussmaterials zu verhindern. Innerhalb von 20 Minuten war das geschmolzene Metall dann in die Form eingebracht. Zwanzig Tage musste die Glocke in der Form verbleiben, bis das Material ausgekühlt und ausreichend verfestigt war. Um den exakten Ton zu erhalten, musste die Glocke, nachdem sie ihre Form erhalten hatte, gestimmt werden. Dies erfolgte wie üblich durch Abnehmen von Material auf einer überdimensionalen Drehmaschine und mit einer Stimmgabel.
 
Die Verbindung aus alter Handwerkskunst und neuen Konstruktionsideen ließ diesen zweiten Anlauf schließlich gelingen. Die bis heute größte in Whitechapel gegossene Glocke war fertiggestellt: BIG BEN.
 
Die Gießerei heute

Als ich auf der Whitechapel Raod im Londoner East End entlang ging, verfehlte ich die berühmte Gießerei mehrmals. Von der Straße aus war nicht mehr auszumachen als eine holzverkleidete Fassade wie die eines winzigen Ladengeschäftes aus dem letzten Jahrhundert. Von den Produktionshallen war von vorne praktisch nichts erkennbar. Fast war ich enttäuscht, als im Laden nichts weiter als eine kleine Theke stand. Ein paar Handglocken in den Glasvitrinen waren der einzige Hinweis, dass ich hier doch richtig war.
 
Dennoch, dieser „Krämerladen“ steht heute im Guiness Buch der Rekorde: Als die älteste seit ihrer Gründung im Jahre 1570 ununterbrochen produzierende Firma in Groß Britannien. Manche Nachforschungen ergaben sogar Hinweise auf Gießereiaktivitäten bis zurück in das Jahr 1420. Columbus sollte erst 72 Jahre später nach Amerika segeln.
 
Nigel, der Gießmeister, führte mich durch die Tür hinter der Theke in die Produktion. Und mit einem Schlag war mir klar, dass sich mein Weg gelohnt hatte. Die Jahrhunderte lagen hier in der Luft. Schwerste Eisenketten wie aus einer mittelalterlichen Folterkammer hingen als Werkzeuge an den dunklen Ziegelwänden. Grobe Eisenzangen ließen keinerlei Zweifel über die schwere körperliche Arbeit, die bis heute an keiner Stelle automatisiert werden konnte. Mannshohe Kirchturmglocken wurden auf niederflurigen Trolleys mit Muskelkraft verschoben. Die Hitze der offenen Schmelzfeuer schlug den Männern ins Gesicht und färbte ihre Gesichter glutrot. Geschmolzenes Gussmaterial wurde an langen Stangen in die heißen Formen eingebracht. In der Luft hing der schwere Geruch von Gussstaub. „Und genau dies ist es, was mich an meinem Beruf so fasziniert“, erzählte mir Nigel. „Unser Wissen heute sind uralte handwerkliche Erfahrungen und Fähigkeiten, die mit nichts durch moderne Technik ersetzt werden können. Keine Computer, keine Maschinen, nichts was wir nicht vor 150 Jahren auch schon so gemacht hätten“.
 
Es gab nie staatliche Zuschüsse oder Förderungsprogramme, um die Gießerei aus musealem oder historischem Idealismus heraus am Leben zu erhalten. Dies war niemals nötig, da der Betrieb immer allein mit den überlieferten Methoden der Großväter wirtschaftlich arbeitete.

Im Mai 2017 wurde die Gießerei geschlossen.

Copyright Klaus Richter Fotografie
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